Arciorgano-Stimmung "Michelangelo Rossi: Madrigali al tavolino"

Die Basler Rekonstruktion des Arciorgano nach Nicola Vicentinos Angaben von 1555 und 1561 verfügt über 36 Tasten pro Oktave, die über zwei Manuale mit mehrfach gebrochenen Obertasten bedient werden. Jeder Taste ist eine Pfeife zugeordnet, weshalb die Orgel innerhalb einer Oktave 36 Tonhöhen definiert. Die Abstände zwischen den Tonhöhen sind dabei unregelmässig, der kleinste Abstand entspricht einem Viertel des syntonischen Kommas und liegt damit im Bereich der Wahrnehmbarkeitsgrenze für melodische Intervalle. Der grösste Abstand entspricht etwa zwei Fünftel eines Ganztons. In dieser unregelmässigen 36-fachen Oktavteilung entsteht eine unerhört grosse Vielzahl an unterschiedlich grossen Intervallen: Es können hörenderweise über 100 unterscheidbare Intervallgrössen gefunden werden. Diese buchstäblich 'vielen Töne', die das Arciorgano bereitstellt, wurde von einer Reihe von Komponisten seit dem 16. Jahrhundert auch musikalisch bewusst eingesetzt − so unter anderem von Michelangelo Rossi in seinen 'vieltönigen' Madrigalen.

In diesem Text wird der Versuch unternommen, die für das Projekt verwendete Arciorgano-Stimmung aus unterschiedlichen Perspektiven zu charakterisieren.

Für die Aufnahme der CD "Michelangelo Rossi: Madrigali al tavolino" wurde neben dem Arciorgano auch ein Cembalo mit 31 Tasten pro Oktave verwendet, ein sogenanntes Clavemusicum Omnitonum. Es ist an ein erhaltenes Originalinstrument von Vito Trasuntino aus dem Jahr 1606 angelehnt. Die Stimmung dieses Instruments wird am Ende dieses Textes umrissen.

Höreindruck

Beim Zuhören fallen folgende Merkmale der Stimmung besonders auf:

  • alle konsonanten Akkorde sind absolut rein gestimmt.
  • Es gibt keine temperierten Zusammenklänge, wie sie sonst auf allen Tasteninstrumenten üblich sind, sowohl im 16. und 17. Jahrhundert (mitteltönige Stimmung), wie auch ab dem 18. Jahrhundert bis heute (temperierte Stimmungen, insbesondere die gleichstufige 12-fache Oktavteilung, die heute auf Klavieren zu finden ist).
  • Es gibt zwei deutlich unterschiedlich grosse Halbtöne: der echte (diatonische) Halbton, den wir heute "kleine Sekunde" oder "Leitton" nennen, sowie den chromatischen Halbton, den wir heute "übermässige Prime" nennen. Der diatonische Halbton ist etwa so gross wie drei Fünftel eines Ganztons, während der chromatische Halbton nur zwei Fünftel eines Ganztons einnimmt. Der Unterschied zwischen beiden Halbtönen beträgt also ungefähr einen Fünftelton.

Die Kombination aus stark unterschiedlichen Halbtönen und reinen Harmonien führt zu einem unter Umständen verstörenden Klangeindruck, der aber zu einer ungewohnten Klarheit und Transparenz der Polyphonie beiträgt.

Historische Einordnung

Die Arciorgano-Stimmung kann als Erweiterung oder Verlängerung der mitteltönigen Stimmung betrachtet werden. Auf einer konventionellen Klaviatur mit sieben weissen und fünf schwarzen Tasten pro Okatve legt die mitteltönige Stimmung die Rolle der schwarzen Tasten eindeutig fest: sie sind entweder als ♯-Alterationen (fis, cis, gis) oder als ♭-Alterationen (b, es) zu verstehen und zu verwenden. Eine sogenannte enharmonische Verwechslung ist nicht möglich. Im 16. und 17. Jahrhundert war es üblich, genau drei ♯-Tasten (fis, cis und gis) und genau zwei ♭-Tasten (b und es) zu stimmen.

Diese Einschränkung in der Verwendbarkeit der schwarzen Tasten umgeht das Arciorgano indem sie geteilt werden. Auf den vorderen Gliedern der schwarzen Tasten liegen die üblichen ♯- und ♭-Alterationen, auf den hinteren Gliedern das jeweilige enharmonische Gegenstück. Auf diese Weise können wesentlich mehr verschiedene Klänge und weitere Modulationen komponiert werden. Diese Erweiterung löst das Problem der Tonartenbeschränkung, das die mitteltönige Stimmung mit sich bringt.

Allerdings geht das Arciorgano noch einen wichtigen Schritt weiter. Denn durch das Brechen der schwarzen Tasten wurde das Problem der temperierten Quinten und kleinen Terzen der mitteltönigen Stimmung nicht behoben. Die Pfeifen des oberen Manuals sind so gestimmt, dass zu jeder Pfeife des unteren Manuals eine reine Quinte und eine reine kleine Terz vorhanden ist. Somit wird das obere Manual dazu verwendet, die Temperierung der Intervalle der mitteltönigen Stimmung so zu kompensieren, dass sämtliche Intervalle rein klingen.

Spielweise

Als Spieler braucht man die Stimmung nicht intellektuell zu verstehen. Es genügt zu wissen, wo die notierten Tonhöhen auf dem unteren Manual zu finden sind: die im 16. und 17. Jahrhundert konventionellen Vorzeichen (b, es und fis, cis, gis) liegen auf den vorderen Obertastengliedern, alle anderen auf den hinteren. Mit diesem Wissen kann man bereits die Partituren von Rossis Madrigalen korrekt auf dem unteren Manual greifen. Möchte man die Stimmung verbessern, kann man die Quinttöne und Kleinterztöne jeder Harmonie auf dem oberen Manual greifen. Wenn die Musik schnell fliesst, ist dies unbequem und mental sehr anstrengend, allerdings hört man dann die Intonationskorrekturen auch kaum. Bei stehenden Klängen und langsamen Progressionen lohnt es sich jedoch, die Klänge mit Hilfe des zweiten Manuals auszustimmen, was grifftechnisch gut möglich ist.

Notation

Die konventionelle Notation, die sich in Bezug auf Tonhöhen seit Mitte des 16. Jahrhunderts nicht wesentlich verändert hat, deckt bereits alle Tasten des unteren Manuals ab. Zu jedem Tonbuchstaben (A, H, C, D, E, F, G) gibt es eine Position des Notenkopfs im Fünfliniensystem, und eine weisse Taste in der Klaviatur. Jeder Tonbuchstabe kann entweder mit einem ♯ oder einem ♭ modifiziert werden. Jede dieser Modifikationen kann einer schwarzen Taste zugeordnet werden (mit Ausnahme von ces und fes). Es ist also nicht nötig, eine neue Notation zu erfinden.

Das zweite Manual braucht nicht notiert zu werden. Es dient zur lokalen Korrektur der Quinten und kleinen Terzen und widerspiegelt deshalb keine kontrapunktischen Vorgänge, sondern eher aufführungspraktische Anpassungen, die im Moment des Spielens, nicht im Moment des Komponierens geregelt werden.

Falls man trotzdem eindeutig notieren möchte, ob eine Note nun auf dem oberen oder dem unteren Manual gespielt werden soll, kann man einen Punkt über den Notenkopf setzen. Dies schlug Nicola Vicentino 1555 vor. Dieser Punkt verweist darauf, dass die zugehörige Taste auf dem oberen Manual zu suchen sei. Michelangelo Rossi notiert keine Punkte, in seinen Madrigalen ist es dem Orgelspieler überlassen, aufgrund des Kontexts die jeweils adäquate Tasten des Obermanuals zu wählen.

Michelangelo Rossi verwendet in einigen wenigen Passagen Doppelkreuze, beispielsweise ein 'cisis' als grosse Terz über einem 'ais'. Solche Doppelvorzeichen werden von der hier beschriebenen Orgelstimmung nicht abgedeckt. Dem Prinzip der Teilung der Obertasten folgend, würde ein drittes Glied der Obertasten der Ort für solche Tonhöhen sein. Das Clavemusicum Omnitonum stellt in der dritten und vierten Obertastenreihe sämtliche Doppelkreuze und Doppel-B zur Verfügung. Auf dem Arciorgano wurden im Rahmen der CD-Aufnahme solche Tonhöhen durch kurzzeitiges Umstimmen einer geeigneten Taste des oberen Manuals eingerichtet.

Mathematische Beschreibung

Die Arciorgano-Stimmung kann als zwei sich überlagernde lineare Systeme beschrieben werden. Beide haben als Generatorintervall eine mitteltönige Quinte, die um ein Viertel des syntonischen Kommas kleiner als rein sind. Das erste lineare System liegt im unteren Manual und besteht aus einer Kette von 18 solcher Quinten (ges bis his), das obere Manual besteht aus einer Kette von 16 solcher Quinten (ges bis ais). Das zweite lineare System klingt um einen Viertel des syntonischen Kommas höher als das erste.

Die Stimmung des Clavemusicum Omnitonum

Die 31 Stufen pro Oktave des Clavemusicum Omnitonum wurden für dieses Projekt konventionell mitteltönig gestimmt. Alle Obertasten dieses einmanualigen Instruments sind vierfach geteilt, wobei die jeweils zwei vorderen Glieder der Teilung des Untermanuals des Arciorgano entsprechen. Somit stimmen die ersten zwei Reihen der Obertasten des Clavemusicum Omnitonum genau mit dem unteren Manual des Arciorgano überein. Die dritte und vierte Reihe des Obertasten des Clavemusicum Omnitonum wurden bis auf eine einzige Ausnahme in "Oh prodighi di fiamme" nicht verwendet.

Das Clavemusicum Omnitonum ist um einen Ganzton (in gleichstufiger Teilung der reinen grossen Terz) tiefer gestimmt als das Arciorgano, d.h. die G-Tasten auf dem Untermanual des Arciorgano klingen auf der gleichen Tonhöhe wie die A-Tasten des Clavemusicum Omnitonum.

Die Vieltönigkeit der Instrumente regte Michelangelo Rossi nachweislich zu seinen 'Madrigali al tavolino' an.