Im 1561 publizierten Werbeblatt zum Arciorgano heisst es in der Beschreibung des Instruments in Zeile 8: "Tutte le canne son fatte di legno accioche stia lungo tempo accordato, e renda dolce intonatione;" (Alle Pfeifen sind aus Holz gemacht, damit das Instrument die Stimmung lange halte und eine liebliche 'dolce' Intonation habe.) Demnach handelt es sich bei dem Arciorgano um ein organo di legno, das in zeitgenössischen Quellen des 16. und 17. Jahrhunderts öfters genannt wird, heute aber weitgehend in Vergessenheit geraten ist und meist durch eine Orgel mit gedackten Holzpfeifen ersetzt wird. Dieser Post stellt einige der Quellen dieses speziellen Orgel-Typs zusammen.
Bislang hat sich vor allem der italienische Organologe Pier Paolo Donati mit dem organo di legno beschäftigt und Quellen zusammengetragen. So publizierte er auch das obige Gemälde, die einzige bislang bekannt gewordene Darstellung einer italienischen Orgel mit offensichtlichen Holzpfeifen aus der Zeit um 1600 (Heilige Cäcilia im Gespräch mit Engeln, zugeschrieben an Bartolomeo Schedoni [Schedone] oder Giulio Cesare Amidani [Amidano]; Neapel, Museo Nazionale di Capodimonte, Inv. 382).1 Die Orgel zeigt vierkantige Prinzipal-Holzpfeifen mit einer offensichtlich relativ massiven Vorderseite, in das wie bei einer Blockflöte tiefe Labien eingeschnitten sind. Auffällig sind weiter vergleichweise lange Pfeifenfüsse, die auf einen besonders gestalteten Windkanal und damit Windführung hinweisen.
Das einzige erhaltene Instrument aus der Renaissance, das über derartige Pfeifen verfügt und damit die Bezeichnung organo di legno verdient, steht in der Silbernen Kapelle in der Hofkirche in Innsbruck.2 Zwar fehlen Dokumente über seine genaue Herkunft und Geschichte, aber es kann vermutet werden, dass das anonyme (ober-)italienische Instrument in Verbindung zu Anna Caterina Gonzaga (1566-1621) steht, die 1582 Erzherzog Ferdinand II. von Tirol heiratete (so steht die Orgel heute auch in der Grablege des Erzherzogs an der Stelle ihres Sarges). Demnach wurde das Instrument vielleicht von ihr aus Mantua nach Innsbruck mitgebracht und wäre vielleicht kurz zuvor, d.h. um 1580 gefertigt worden.
Übersicht
Der Instrumententyp des organo di legno taucht im 16. und 17. Jahrhundert in verschiedenen Dokumenten auf: Dazu gehören etwa
die (zeitlich spät liegenden) Instrumenten-Inventare der Familie Medici in Florenz;3
die ausführliche Beschreibung des frühbarocken Operngeschäftes Il Corago, die vermutlich von Pierfrancesco Rinuccini zwischen 1628-1637 in Florenz verfasst wurde;4
eine instrumentenbauliche Beschreibung von Antonio Barcotto (Padua 1652);5
sowie Erwähnungen etwa bei Emilio de’ Cavalieri sowie auch als Instrumentenangabe in Opern, am prominentesten vielleicht in Monteverdis Orfeo (hier zur Begleitung der Messagera, der Klage Orfeos und seinem Gesang zu Beginn des 5. Akts).6
Wenn man alle diese Quellen überblickt, scheint eine solche Orgel mit Holzpfeifen (mehrmals explizit als Zypressen-Orgeln beschrieben) einem spezifischen Kontext zugeordnet zu werden: für klein besetzte Kammermusik, vor allem mit vokaler Besetzung, als portable Instrumente mit wenigen Registern für weltliche Aufführungen, insbesondere in Akademien, Opern und Theatern. Der Klang wird als "di voce graue e dolcissima",7 als "dolce" und "non [di] gran quantità di suono", dafür aber mit "maggior armonia e soavità",8 als "soave"9 und sogar "savissimo"10 beschrieben, so dass beispielsweise die von Cavalieri in seiner Rappresentatione di Animo, et di Corpo genannte "vn Organo suaue" wohl ein organo di legno meint.11
Bemerkenswert ist, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Typ organo di legno und vieltöniger bzw. chromatisch-enharmonischer Erweiterung zu geben scheint: Neben Vicentinos Arciorgano mit einer erweiterten Klaviatur mit mindestens 31 Tasten pro Oktave sind eine ganze Reihe weiterer solcher Orgeln belegt. 1588 figuriert in der Sammlung des Venezianers Luigi Balbi ein organo di legno "con una tastadura cromatica de semitoni tutti scavezzi sopra tutti i semituoni", besonders wird ein Register "flauto di legno d’incredibil dolcezza" hervorgehoben.12 Gleich drei zwischen 1593 und 1602 von Francesco Palmieri in Florenz gebaute enharmonische Orgeln finden sich im Besitz der Medici, die etwa als "organi doppij inarmonici, e diatonici, con due tastature" oder "organo gromatico di cipresso con tastatura doppia" bezeichnet werden und mit einer Teilung des Ganztons in 10 commata operieren.13 In einem Brief an Luzzasco Luzzaschi beschreibt Emilio deʼ Cavalieri zu der ersten dieser Orgel: "nel quale non solo si potrà sonar armonico, ma anco vi sarà la partitione del tuono in dieci come, la quale, sì come me dice haver detto a V.S., io l’ho fatto con una voce cantare sopra ad organo di legno in Fiorenza, dove è stato sentito da molti. Et per essere cosa nuova et molto difficile, non manca chi non la crede; la qual essendo cosa curiosa da chi si diletta, io receverei per un grandissimo favore se con qualche occasione V.S. potesse venire a favorire Fiorenza et io fargliela sentire, poiche sperarei, col suo mezzo et con l’eccelenza di quelle signore, haver gratia che cantassero un paro de madrigali in questo nuovo modo di partire il tuono in dieci parti. Et di questa maniera conseguirei alchune fatiche fateci."14 Und schliesslich erwähnt Adriano Banchieri 1609 "vn Organo soaue di canne lignee" mit mehrfach gebrochenen Obertasten ("tasti scauezzi").15
Aufführungspraktische Implikationen
Ein organo di legno scheint eine völlig andere Charakteristik gehabt zu haben als Kirchenorgeln. In erster Linie waren die Pfeifen aus einem anderen Material gebaut, was eine andere Bauweise erfordert: statt kreisrund sind Holzpfeifen quadratisch oder rechteckig im Querschnitt. Der Kern und damit der Windkanal und das Labium sind anders ausgestaltet und führen zu einem völlig anderen Klang als Metallpfeifen ihn erzeugen können.
(Nur in Klammern sei erwähnt, dass es auch organi di legno mit gedrechselten Pfeifen in der Art von Blockflöten gegeben zu haben scheint, wie es Ercole Bottrigari 1601 beschreibt: "organo con le canne di Legno di Busso rotonde, di assai gran lunghezza e grossezza tutte di un pezzo à guisa di Flauti composto e fabbricato in Forma di chiozzola, ò uoluta".16 Die besondere Anordnung der Pfeifen als runder Pfeifenturm stellt eine weitere Besonderheit dieses aussergewöhnlichen Instrumentes dar, die sich bis in das 15. Jahrhundert zurückverfolgen lässt.)
In der heutigen historischen Aufführungspraxis stellt die Verwendung einer Orgel in einem Ensemble im Allgemeinen ein ungelöstes Problem dar: Kirchenorgeln befinden sich bis auf wenige Ausnahmen nicht mehr in einem barocken, geschweige denn frühbarocken oder Zustand aus der Zeit der Renaissance. Und auch wenn solche Instrumente stilistisch kohärent erhalten sind, werden sie häufig aus praktischen Gründen nicht im Ensemble eingesetzt. Die Gründe sind vielfältig: Es gibt zu wenig Platz auf den Emporen, die Ausführenden sind für das Publikum unsichtbar, die Kommunikation zwischen den Musikern ist kompliziert, die Stimmtonhöhe oder die Stimmung der Orgel passen nicht zu den Ensemble-Instrumenten, etc.
Portable Orgeln stellen meist keine bessere Lösung dar, weil sie heute üblicherweise auf gedackten Holzpfeifen basieren (Truhenorgeln mit offenen Prinzipal-Pfeifen sind sehr selten). Dies hat eine Klangästhetik zum Resultat, die in Italien quasi nie von Bedeutung war und nördlich der Alpen zwar existierte, aber nicht in erster Linie der Vorstellung einer vollwertigen Orgel entspricht. Die Basis jeder vollwertigen Orgel ist das Prinzipal-Register, das per Definition nicht gedackt ist. Gedackte Register bilden höchstens eine ergänzende Alternative zum Prinzipal-Register. Selbst portable Orgeln waren stets mit offenen Prinzipal-Pfeifen ausgestattet, Kompromisse wurden bei solchen Instrumenten üblicherweise in der Bass-Region gemacht, wo auf gedackte Pfeifen ausgewichen wurde, um Platz und Gewicht zu sparen.
Es ist in der heutigen Aufführungspraxis Alter Musik also praktisch unmöglich, einen authentischen, für historische Verhältnisse ’normalen‘ Orgelklang zu bekommen. Ebenso unmöglich ist es, ein authentisches organo di legno mit offenen Holz-Prinzipal-Pfeifen zu finden. Dabei wäre gemäss den hier erwähnten und zitierten Texten genau ein solches Instrument zwingend nötig, um einen bedeutenden Teil des Repertoires aus der Renaissance und des Frühbarocks aufzuführen: Opern von Peri, Monteverdi und Cavalli, Vokalwerke von Cavalieri, Mazzocchi, D’India, Gesualdo, Luzzaschi und Vicentino, um nur einige wenige prominente Komponisten zu nennen.
Wie stark die Substitution solcher Instrumente mit heute üblichen Truhenorgeln mit gedackten Registern die Interpretation und die Wirkung dieser Musik beeinflussen, kann erst beurteilt werden, wenn plausible Rekonstruktionen von organi di legno existieren und praktisch eingesetzt werden. Das war bislang leider noch nicht der Fall.
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Pier Paolo Donati, "Lʼorgano della Silberne Kapelle di Innsbruck. Relazione di restauro", in: Informazione Organistica 13 (2006), 57-94, 82 und Abb. 4 (zw. pp. 80-1). ↩
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Zu diesem Instrument und seiner Geschichte vgl. Donati, "Lʼorgano della Silberne Kapelle di Innsbruck"; Franz Gratl & Peter Waldner, "Die Orgel der Silbernen Kapelle in der Innsbrucker Hofkirche", Booklet-Text zur CD Die italienische Renaissance-Orgel in der Silbernen Kapelle in der Innsbrucker Hofkirche, Musikmuseum 11 (2011), 4-17. ↩
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Siehe Giuliana Montanari, "Gli organi di legno della Guardaroba Medicea nel XVII secolo", in: Informazione organistica 19 (2008), 63-103. ↩
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Paolo Fabbri & Angelo Pompilio (Hgg.), Il corago o vero alcune osservazioni per metter bene in scena le composizioni drammatiche, Florenz: Olschki 1983 (Studi e testi per la soria della musica 4); siehe auch Pier Paolo Donati, "Il ruolo dellʼorgano di legno in una fonta del primo seicento", in: Informazione organistica 19 (2008), 41-55. ↩
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Antonio Barcotto, Regola, e breve raccordo per far render agiustati, e regolati ogni sorte d’Istromenti da vento, cioè Organi, Claviorgani, Regali, e simili, e contengono le vere maniere per formare detti Istromenti delli più buoni, belli, e ben compartiti, Padua: Stamp. Cam. 1652. - Ediert von Pier Paolo Donati in: Informazione organistica 8 (2004), 101-28; oder auch Peter V. Picerno, "Antonio Barcotto's Regula e breve Raccordo: a Translation and Commentary", in: Organ Yearbook 15 (1985), 47-70; sowie www.liuteriabresciana.it/_dep/barcotto.pdf (22.V.2016). ↩
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Pier Paolo Donati, "Emilio dei Cavalieri: un organologo del Cinquecento", in: Informazione Organistica XIV/3 (2002), 185-231. ↩
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Nicola Vicentino, Werbeblatt für sein Arciorgano, Venedig: Nicolo Bevil’acqua 1561, Zeile 14. ↩
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Barcotto, Regola, e breve raccordo, 23-4: "6. Delle Canne di legno. Sono usate le Canne di legno, e la maggior ragione è per formare istrumenti dolci da camere, e sale, o vero d’Accademia, acciocchè per la vicinanza delle orecchie d’ascoltanti non siano fastidite dall’alterezza del suono, poiche in luoghi piccoli, come camere e sale non si ricerca gran quantità di suono e gli strumenti in tali luoghi quanto più son dolci, tanto maggior armonia e soavità formano.“ und pp. 25-6 „È da saper di più, che le canne di legno fanno due effetti; uno si è, che sono dolci si, e meno strepitose da camera; [...]". ↩
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"Organo soaue di canne lignee" bei Adriano Banchieri, Conclvsioni nel svono dell’organo, 15. ↩
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So berichtet Claudio Monteverdi in einem Schreiben am 22. Jan. 1611 an Kardinal Ferdinando Gonzaga in Rom von abendlichen Konzerten jeden Freitag in der Sala deʼ Specchi mit Adriana Basile und hebt besonders das Konzert am vorangegangenen Freitag hervor: "Con tal bella occasione farò sonare li chitaroni a li casalaschi [= Brüder Rubini, Orazio und Giovanni Battista, ʻviolistiʼ aus Casale Monferrato] nelʼorgano di legno, il quale è soavissimo, e così canterà la signora Adriano e don Giovanni Battista [Sacchi?] il madrigale bellissimo ʻAhi che morire mi sentoʼ e lʼaltro madregale nelʼorgano solamente."; Éva Lax (Hg.), Claudio Monteverdi, Lettere, Florenz: Olschki 1994 (Studi e testi per la storia della musica 10), 33-5 (Nr. 11). ↩
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Emilio deʼ Cavalieri, Rappresentatione di Animo, et di Corpo, Rom: Nicolò Mutij 1600, "Aʼ Lettori."; vgl. Donati, "Emilio dei Cavalieri: un organologo del Cinquecento", 197. ↩
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"Organo di legno de piedi x con alcuni registri acuti di stagno, oltra il tenor, e flauto di legno d’incredibil dolcezza al n° di sei registri col fifaro, con una tastadura cromatica de semitoni tutti scavezzi sopra tutti i semituoni, col qual instrumento si può concertare con ogni sorte di stromento, o voce, così in tuono, come fuori di tuono, e far musica alta, e bassa da camera, some si vuole."; siehe Pierluigi Ferrari, "Una collezione di strumenti musicali verso la fine del Cinquecento: lo studio di musica di Luigi Balbi", in: Liuteria musica e cultura (1993), 15-21, 16. ↩
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Giuliana Montanari, "Gli organi di legno della Guardaroba Medicea nel XVII secolo", in: Informazione organistica 19 (2008), 63-103, 67-71. ↩
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Donati, "Emilio dei Cavalieri: un organologo del Cinquecento"; Warren Kirkendale, Emilio de’ Cavalieri "Gentilhomo romano". His life and letters, his role as Superintendent of all the arts at the Medici Court, and his musical compositions. With addenda to ‘L’Aria di Fiorenza’ and ‘The Court Musicians in Florence’, Florenz: Olschki 2001 (Historiae Musicae Cultores 86), 133-5 und 343-4 (Dok. 150). ↩
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Banchieri, Conclvsioni nel svono dell’organo, 15 ("vn Organo soaue di canne lignee, fatto da Andrea Luchese, con gli tasti scauezzi, in G. B. & E. negri appresso gli diesis in F. & G. Graui, & oltre il Mi, Re, Vt l’ottaua di E. fà accidentale, stromento comendato da gli professori vniuersalmente"). ↩
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"Lettera di Federico Verdicelli aʼ benigni e sinceri Lettori in difesa del Signor Cav. Hercole Bottrigaro, contro quanto in pregiudicio della reputatione di lui ha scritto un certo Artusi in due sue lettere, vna per Dedicatoria allʼIll.mo Senato di Bologna, l'altra aʼ Cortesi Lettori sotto la data di Milano aʼ 12 di Luglio 1601. Et Stampate in Milano, appresso gli Stampatori Archiepiscopali", Autograph in folio, in I-Bologna B. 46 ['nel Cod. 48 del Liceo', pp. 212-229]; ed. http://www.chmtl.indiana.edu/smi/seicento/VERLET_MBBU326.html). ↩